4 LEBEN IM DELTA sicherlich aus einer ganz anderen Perspektive dar, oder? Wie stark ähnelt die heutige Ausstellung der Schau von 1925? IH: Wir unterziehen die historische Ausstellung einer kritischen Revision. 1925 waren ca. 130 Werke von 32 Künstlern ausgestellt, wir zeigen 233 Werke von 21 Künstlerinnen und 103 Künstlern – also ein völlig anderes Bild, auch im Umfang. Doch wir erinnern auch an die Ausstellung von 1925, von der es leider keine dokumentarischen Raumaufnahmen gibt. Da viele Werke heute verschollen oder nicht auffindbar sind, haben wir uns dafür entschieden, die Jubiläumsausstellung um eine digitale Komponente zu erweitern. In einem Ausstellungssaal des Altbaus der Kunsthalle können Besucherinnen und Besucher in eine Bildwelt eintauchen, mit der nicht die exakte wissenschaftliche Rekonstruktion, sondern vielmehr ein Eindruck vermittelt werden soll, wie die damalige Werkauswahl ausgesehen hat. Als quasi wissenschaftliche Ergänzung dient zudem die digitale Rekonstruktion in Form einer Datenbank. DiQ: Und wo unterscheidet sich die heutige Ausstellung bewusst? IH: 1925 war keine einzige Künstlerin vertreten. Dies lag einerseits daran, dass es Frauen im damaligen Kunstbetrieb kaum gelang, wahrgenommen zu werden, andererseits begann sich das Werk einiger neusachlich malender Künstlerinnen erst um 1925 zu entwickeln und lag so außerhalb von Hartlaubs Blickfeld. Zudem wird in unserer Ausstellung damals Vergessenes, Übersehenes oder auch Ausgeschlossenes einbezogen, das zeigt ja schon die große Zahl an Werken. Die Neue Sachlichkeit Eine ganze Epoche mit einem einzelnen Begriff zu prägen gelingt nur äußerst selten. Dem jungen Mannheimer Kunsthallen-Direktor Gustav F. Hartlaub ist mit seiner legendären Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit“ 1925 jedoch genau das geglückt! Mit „Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum“ blickt die Kunsthalle Mannheim ab November auf die bekannteste und bedeutendste Ausstellung ihrer Geschichte zurück. Bereits ab September beginnt anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Ausstellung ein von der Kunsthalle initiiertes Themenjahr zu den 1920er-Jahren in Mannheim: Zahlreiche Mannheimer Institutionen bieten dann Veranstaltungen an, die sich mit der Neuen Sachlichkeit und den 1920er-Jahren auseinandersetzen. Mehr dazu erfuhren wir von Dr. Inge Herold, der Stellvertretenden Direktorin der Kunsthalle Mannheim und Kuratorin der Ausstellung. Delta im Quadrat: Mannheim und die Neue Sachlichkeit, das gehört seit fast genau 100 Jahren zusammen. Erläutern Sie uns doch einmal, was die Neue Sachlichkeit ist und welche Bezüge der Begriff zur Stadt und insbesondere auch zur Kunsthalle hat! Dr. Inge Herold (Foto Alexander Grüber): Weit über die kunsthistorische Bedeutung hinaus wurde nach der legendären Ausstellung im Jahr 1925 in der Kunsthalle Mannheim der Begriff zum Synonym für den kulturellen Aufbruch der 1920er-Jahre und die in Malerei und Grafik, aber auch in Architektur, Design, Fotografie oder Literatur zu beobachtende Rationalität und sachliche Präzision. Entscheidend für das Lebensgefühl der Jahre waren die Erfahrung des Krieges und dessen wirtschaftliche und soziale Folgen. Das Ende des Krieges ermöglichte zwar einen Neuanfang, doch das Geschehen hatte tiefe Narben hinterlassen. Einerseits setzte ein Aufschwung ein, bahnbrechende Neuerungen sorgten für Veränderungen in Technik, Arbeit und Verkehr. Die Rolle der Frau wurde neu definiert, neue Berufsfelder entstanden, die Gestaltung der Freizeit spielte eine immer größere Rolle. Gleichzeitig bevölkerten Kriegsversehrte das Stadtbild, sorgten die von Deutschland zu leistenden Reparationszahlungen für große wirtschaftliche Probleme, wurden die politischen Auseinandersetzungen zwischen links und rechts auf offener Straße gewalttätig ausgetragen. All dies wurde künstlerisch von den einen realistisch, kritisch und schonungslos dargestellt, während andere in idyllische Gegenwelten flohen. DiQ: Wenn man im Jahr 2024 die Kunst von damals aufgreift, stellt sie sich doch Anita Rée: Halbakt vor Feigenkaktus, 1922-1925 © Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Elke Walford
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