Delta im Quadrat Nr. 58
heute wieder – wird die Straße zumOrt für demokratische Meinungsäußerungen. Das spiegelt sich auch in der Kunst wider, und zwar sowohl in den Themen, die sie abbildet, als auch bei den Ausdrucksformen, die sie wählt. DiQ: Was hat sich hier im Laufe der Zeit verändert? Früher gehörte die Straße ja zum Beispiel noch stärker den Menschen als den Autos, heute hingegen hat man eher das Gefühl, man müsse sich den städtischen Raum gezielt zurückerobern, wenn man Straßen nicht nur als Fahrspur und Parkplatz genutzt sehen will… AI: Mit Provos Amsterdam (1960er-Jahre) und Reclaim The Streets (1990er-Jahre) gab es bereits frühzeitig starke Bewegungen, die diese Entwicklungen kritisiert haben und mit Aktionen oder Straßenfestivals eine Rückeroberung des städtischen Raums einforderten. In Bezug auf die Kunst ist zu sagen, dass das Automobil und die Glorifizierung der Mobilität zahlreiche „schöne“ Auswüchse hervorgebracht haben. Unter dem Motto „On the Road“ zeigen wir Arbeiten, die sich mit dem Roadtrip beschäftigen, wie zum Beispiel Fotografien von Stephen Shore oder die Fotobücher von Ed Ruscha, die die Infrastruktur der Straße, also Tankstellen, Motels oder Parkplätze, in den Fokus rücken. Auch in Deutschland sind spannende Arbeiten entstanden, die vielleicht ironischer und kritischer auf Phänomene wie Autobahn und Verkehr blicken – so beispielsweise Thomas Bayrles erster Film „Auto“ von 1979/80. DiQ: Wie kommt es eigentlich, dass die Begriffe so englisch geprägt sind? Street Art, Street Photography und dazu auch der Ausstellungstitel „Street Life“… was hat die „Street“, was die Straße nicht hat? AI: Street Art und Street Photography sind Begriffe aus der Kunstwissenschaft, die auch deutsche Äquivalente haben. Allerdings sind sowohl die Kunstrichtungen als auch der Diskurs darüber stark im englischsprachigen Raum geprägt worden, weswegen es häufig sinnvoll ist, an den originalen Begriffen festzuhalten. Darüber hinaus assoziiert man mit dem Begriff „Straße“ vielleicht vorerst die Autostraße und mit dem „Leben auf der Straße“ eher die Obdachlosigkeit. Dabei vollzogen sich wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen des 20. Jahrhunderts auf den Straßen der modernen Städte und Metropolen. Um diese gesellschaftliche Dimension der Straße geht es uns in der Ausstellung, um das bunte Treiben und die Vielzahl an Menschen und Geschichten, Themen und Verhandlungen. Dazu hatten wir den funkigen 1970er-Jahre-Sound von „Street Life“ im Kopf. In der Version von Randy Crawford liefert dieses Lied den Soundtrack für die Bühne, die wir Straße nennen und auf der wir alle, ganz bewusst oder en passant, zu Akteuren in unserem eigenen Leben und dem unserer Mitmenschen werden. DiQ: In Ludwigshafen kann man ja unmöglich von der Straße in der Kunst reden, ohne dabei das Projekt MURALU zu erwähnen. Wie hängt dieses mit der Ausstellung zusammen und wie bringt das Wilhelm-Hack-Museum die Kunst sonst noch in die Welt? AI: MURALU war ursprünglich im Rahmen von „Street Life“ geplant, als Teil der Ausstellung, der direkt in den Alltag und in den Stadtraum hinaus strahlt. Verschiebungen u.a. aufgrund der Brandschutzsanierung im Museum haben nun zur Tatsache geführt, dass MURALU bereits lange wirkt, bevor wir die Ausstellung in unseren Räumen eröffnen können. So kündigt das Projekt also die Ausstellung an und wird diese noch viel länger überdauern. Überdauern wird die Ausstellung übrigens auch unser wirklich schöner Katalog, den wir mit dem Hirmer Verlag produziert haben! Mit dem Band kann man sich noch intensiver ins Thema einlesen – oder einfach die Erinnerung anhand der abgebildeten Exponate wach halten. 19.11.2022-05.03.2023, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen Ernst Ludwig Kirchner: Straße mit Passanten bei Nachtbeleuchtung, 1926/27 Öl auf Leinwand, 90,3 x 70,4 cm, Museum Frieder Burda, Baden-Baden Foto: Museum Frieder Burda, Baden-Baden VALIE EXPORT / Peter Weibel, Aus der Mappe der Hundigkeit, 1968 Schwarz-Weiß-Fotografie, 40,3 × 50,3 cm, Sammlung Generali Foundation – Dauerleihgabe am Museum der Moderne Salzburg, © Generali Foundation, Foto: Josef Tandl ; VALIE EXPORT: © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; Peter Weibel
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